Thema: Als gäb's kein Morgen mehr. Mi Apr 13, 2011 7:21 pm
PROLOG
„Warum sind sie hier?“, wagte die Psychologin zu fragen. Es stand ihr buchstäblich auf der Stirn geschrieben, wie wenig sie ihre Patientin einschätzen konnte, dennoch bemühte sie sich eines flüchtigen Lächelns und rückte fachmännisch das teure Brillengestell auf ihrer spitzen Nase zurecht. Amanda runzelte die Stirn und für einen kurzen Moment kam ihr die Idee, dass sie einfach aufstehen sollte. Einfach gehen. Allerdings war sie für eine weitere verzweifelte Rebellen-Aktion viel zu aufgewühlt. Sie sog scharf die Luft durch den Mund ein, räusperte sich dramatisch und begann, lächelnd: „Hören sie zu, Beverly. Ich habe einen...furchtbaren Kater und das ständige Bedürfnis, ihnen mitten ins Gesicht zu kotzen. Also sollten sie dankbar sein, meinen alkohol-geschwängerten Mageninhalt nicht in die Visage zu bekommen. Ich will ja nicht unhöflich wirken, aber warum bin ich gleich hier?“ Die Miene der Alten verfinsterte sich. Sie bäumte sich bedrohlich auf, wollte gerade zu einem Hagelgewitter verärgerter Ausrufe ansetzen, da schnitt ihr Amanda mit beherrschtem Tonfall das Wort ab. „Oh, richtig. Ich bin psychisch gestört.“ Sie spuckte die Worte aus, als wären sie Dreck. Der letzte, gottverdammte Dreck. Zum ersten Mal in diesen schier endlosen siebzehn Minuten nahm Amanda die Sonnenbrille ab, die ursprünglich dazu diente, ihre müden Augen zu verschleiern. Sie blinzelte kurz und legte die Sonnenbrille behutsam auf das eierschalenweiße Couchtischchen vor sich. Mit einem provokanten Grinsen wartete sie auf eine Antwort. Zu gern wüsste sie, ob sie der Psychologin die Sprache verschlagen hatte. Ob sie ihr den Atem geraubt hatte. Beverly Danes machte keine Anstalten, sich zu rühren. Mit einem Mal war ihr bewusst geworden, dass sie sich gerade kinderleicht von einer Jugendlichen hatte provozieren lassen. Sich hatte demütigen lassen. Bis aufs Letzte. „Amanda, weißt du was ich glaube?“ Ein sanftes Lächeln umspielte ihre Lippen. Plötzlich war sie es, die auf ihre Patientin, die junge Göre vor sich, herabsah. „Ich glaube, dass du es verdammt schwer hast.“
Die Beiden starrten sich in Grund und Boden. Es war totenstill. Allein das monotone Ticken der Uhr knackste die Stille an, riss sie immer mehr auf. Amanda schnappte nach Luft. Unschlüssig, was sie jetzt sagen sollte, schlug sie die Beine übereinander, zeichnete mit ihren langen, roten Fingernägeln die Nähte der Sessellehne nach und schluckte hörbar. Bingo, dachte Beverly. Oh, ja. Sie hatte, keine Frage, einen wunden Punkt von Amanda getroffen. Denn das süffisante Grinsen war schlagartig aus dem hübschen, kindlichen Gesicht der Patientin gewichen und eine beunruhigende Blässe hatte sich stattdessen breit gemacht. Allmählich wurden ihre Augen nass. Die erwachsene Fassade fiel. Der rote Lippenstift wirkte ausgewaschen. Amanda spannte ihren Kiefer an, kniff die Augen zusammen. Bohrte ihre Fingernägel in den Sessel. Es half nichts. Während ihr die Tränen stumm über die Wangen rollten, kramte sie nach ihrer Zigarettenschachtel. Sie wollte gar nicht erst fragen. Erwartete kein Kommentar. Erwartete nur Verständnis. Die Flamme des Feuerzeugs erhellte für den Bruchteil einer Sekunde wie ein Blitz ihr Gesicht. Nass, als könnte man es nie wieder trocknen. Der Rauch stieg langsam wie Luftblasen bis hinauf zur Zimmerdecke und verschwand dann. Energisch zog Amanda an der Kippe, als stände ihr Leben auf dem Spiel. Sie hatte die Maske fallen lassen und fuhr sich nun, wie ein kleines Kind, mit dem Handrücken über die tränennasse Wange. Ihre Stimme klang kratzig. „Ich hatte mal ein perfektes Leben.“
Chaostochter Admin
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Thema: Re: Als gäb's kein Morgen mehr. Do Apr 14, 2011 7:57 am
Deine Wortwahl = Reines Gold. ♥ Der Prolog klingt wunderbar und ich hoffe, dass du weiterschreibst, bin schon ganz gespannt, worum es geht. (: